Interpretation


Die Monolognovelle "Fräulein Else" von Arthur Schnitzler, die zur Gattung der Wiener Moderne gehört, wurde erstmals 1924 veröffentlicht und thematisiert, wie Frauen unter der Frauenrolle der Gesellschaft zur Zeit des Ersten Weltkriegs leiden.

Im Auftrag ihrer Eltern soll die 19-jährige Else, die sich gerade mit ihrer Tante und ihrem Cousin in einem Hotel in Südtirol befindet, einen älteren Bekannten namens Herr Dorsday um 30.000 Gulden bitten. Falls sie das Geld nicht bald auftreiben können, müsste Elses Vater, ein bekannter Anwalt, ins Gefängnis. Herr Dorsday ist bereit, das Geld zu geben, verlangt jedoch eine Gegenleistung: Er möchte Else für 15 Minuten nackt sehen. Diese Forderung stürzt Else in einen inneren Konflikt, der wahrscheinlich zu einem tödlichen Ausgang führt.

Inwiefern zerfällt Fräulein Else an dem Rollenkonzept für Frauen, welches ihr von der Gesellschaft zur Zeit des Ersten Weltkrieges aufgedrängt wird?

Wir haben uns für diese These entschieden, weil wir während des Lesens von Fräulein Else erschrocken waren, wie labil Elses Psyche ist und wie sich ihr mentaler Zustand im Verlauf des Werkes verschlechtert. Wir sahen einen der Hauptgründe für diese Entwicklung im Rollenkonzept der Frau im frühen 20. Jahrhundert und der Doppelmoral der Oberschicht.

Else befindet sich in einem Dilemma, da sie nicht weiß, wie sie handeln soll. Sie könnte nach ihrem Vorgehen gehen und sich Dorsday nicht hingeben, oder sie könnte gegen die gesellschaftlichen Sitten verstoßen, sich Dorsday hingeben und damit ihren Vater und sich selbst retten. Ich empfinde, dass Arthur Schnitzler mit Fräulein Else aufzeigen wollte, dass die Gesellschaft die Frauen in eine sehr schwierige Situation bringt, in der es fast unmöglich ist, die richtige Entscheidung zu treffen, da jede Entscheidung, die man trifft, von irgendeiner Seite kritisiert wird oder für einen selber negative Konsequenzen mit sich trägt. Fräulein Else konnte es nie allen recht machen. Mit dem Versuch, dem Rollenkonzept der Frau und den anderen gerecht zu werden, hat sie sich selbst zerstört. Arthur Schnitzler hatte kein Problem damit anzuecken oder für Aufsehen zu sorgen, also traute er sich, eine so schwere Gesellschaftskritik auch in allen Massen zu äußern.

In der Novelle werden viele Wörter verwendet, die uns neu waren, beispielsweise "Filou", "Kanaille" oder auch "liederlich". Allgemein kann man an der Sprache von Else in vielen Szenen des Werkes erkennen, dass sie sehr gehoben und elegant redet. Dazu bewahrt sie meistens Distanz zu den Menschen, mit denen sie redet. Diese Merkmale werden einem bewusst auf Seite 74, als Else mitbekommt, dass Cissay Paul dutzt, und sie darauf hinweist, dass sie sie erwischt hat. Diese Szene zeigt, dass es zu Beginn des 20. Jahrhunderts nicht üblich war, andere zu duzen, und man fast alle siezte.

In Fräulein Else findet man einen inneren Monolog vor, dank dem wir immer wissen, wie sich Fräulein Else fühlt und denkt. Dem inneren Monolog haben wir zu verdanken, dass wir wissen, wie sich die Gemütslage von Fräulein Else im Verlauf der Novelle verändert. Der Erzähler ist auch gleichzeitig die Hauptfigur. Wir, die Leser, werden also in ihre Psyche mitgenommen, deshalb fühlt man sich verbundener mit Else, und man hat das Gefühl, man ist dabei, während sie einem erzählt, was in ihr vorgeht. Der innere Monolog zeigt auch subtil auf, wie sich etwas in Else ändert und wie ihre Umwelt mit ihr umgeht. Man bekommt immer mehr mit, wie sie dieses Dilemma zerstört und wie sie es nicht mehr schafft, einen klaren Gedanken zu fassen. Der Erzähler wird immer verwirrter und weiß nicht, was er machen soll, bis er Ruhe im endlosen Schlaf findet.

In der Monolognovelle Fräulein Else kann man an verschiedenen Textstellen deuten, dass Arthur Schnitzler in seinem Werk mehrmals die Rolle der Frau in der Gesellschaft um den Ersten Weltkrieg kritisiert. In vielen Textstellen findet man eine Doppelmoral, die von der gehobenen Schicht Wiens ausgelebt wird.

"Sie werden nicht ärmer dadurch, dass sie es verkaufen. Und dass es ein Geheimnis bleiben würde zwischen Ihnen und mir, das schwöre ich Ihnen, Else." (S.35)

In diesem Textausschnitt geht es darum, dass Else Dorsday fragt, ob er ihrer Familie 30.000 Gulden ausleihen könnte, weil es sich um einen Notfall handelt, bei dem Elses Vater, wenn das Geld nicht überwiesen wird, ins Gefängnis gehen muss. Herr Dorsday sieht, wie verzweifelt Else ist, und macht ihr ein Angebot, das sie gerne abschlagen würde, es aber leider nicht kann, weil ihre Familie das Geld dringend braucht. Herr Dorsday möchte Else für eine Viertelstunde nackt sehen, und dann würde er ihr die 30.000 Gulden übergeben. In der Gesellschaft um den Ersten Weltkrieg war es eigentlich gegeben, dass eine Frau unschuldig bleiben sollte bis zu ihrer Eheschließung. In diesem Textabschnitt wird impliziert, dass sie sich keine Sorgen machen muss, dass dieser Deal ihr Schaden bringen könnte, da es ja ein Geheimnis ist und niemand davon erfährt. Es zeigt, dass die Voraussetzung, dass Frauen unschuldig und unberührt sein sollten, in der Praxis nicht ausgeführt werden muss. Es muss einfach nach außen so wirken, als ob es so wäre. Der Schein muss aufrechterhalten werden, und man möchte die jungen Frauen sexuell restriktieren, gleichzeitig möchte man aber auch von ihrer Schönheit Gebrauch machen. Zusätzlich kommt hinzu, dass beide wissen, dass diese Vereinbarung in jeglichem Maß unethisch ist, aber das Fräulein Else halt auch keine andere Möglichkeit hat, um an das Geld zu kommen, da sie keiner Arbeit nachgeht und es ihr einziger Auftrag ist, gut auszusehen und interessant zu sein. Das bekommt man auch auf Seite 46 mit, wo Else sich fragt, wozu sie denn überhaupt auf der Welt ist und wo sie feststellt, dass sie nur daraufhin erzogen wurde, um verkauft zu werden. Diese Textstelle zeigt sehr gut auf, dass die Frauen oft nicht wussten, wofür sie überhaupt lebten, da die Gesellschaft ihnen oft das Gefühl gab, dass sie einfach gute Ehefrauen und Mütter werden sollten, und die Selbstverwirklichung wurde für die Frauen meistens außen vor gelassen. Deswegen war es für viele Frauen immer klar, dass sie einen guten Mann heiraten möchten und später eine glückliche Familie mit Kindern gründen möchten. Für Else war das aber keine Option. Else hat, wie Arthur Schnitzler selber, eine Heiratsphobie. Sie sagt: "Ich werde nicht treu sein. Ich bin hochmütig, aber ich werde nicht treu sein" (S.20). Man muss jedoch auch zugeben, dass sie sich sehr oft widerspricht und noch keine klare Meinung zu vielen Themen hat. Aber das zeigt auf, dass Else nicht dem Ideal einer jungen Frau entspricht, da sie weder unbedingt heiraten möchte noch Kinder haben möchte. Allgemein ist Else auch eine Figur, die nicht der Vorstellung der Gesellschaft entspricht, da sie viele Liebhaber haben möchte und ihre Bedürfnisse nicht unterdrücken möchte, sondern sie eigentlich ausleben möchte, jedoch macht sie es nicht, weil ganz tief in ihrem Inneren hat sie das Frauenrollenbild verinnerlicht und möchte dem eigentlich aus Angst entsprechen, was bei ihr dann schlussendlich dazu führt, dass sie am Ende der Novelle an den verschiedenen Ansprüchen, die an sie gestellt werden, zusammenbricht.

Unser Fazit ist, dass Arthur Schnitzler mit Fräulein Else zeigen wollte, dass die Anforderungen, die man an Frauen zu dieser Zeit hatte, nicht gerechtfertigt sind, weil man mit diesen einen enormen Druck auf diese ausübt und die Sexualität der Frau komplett verteufelt. Ich glaube nicht, dass Fräulein Else nur an dem gesellschaftlichen Frauenrollenbild zerbrochen ist. Ich glaube, es hat sich einfach vieles auf einmal ereignet, was sie sehr bedrückt hat. Man darf auch nicht vergessen, dass Fräulein Else erst neunzehn ist und sie erfährt, dass es jetzt in ihrer Hand liegt, ob ihr Vater ins Gefängnis geht und die ganze Familie ihre Existenz verliert. Sie wurde von vielen Seiten mit enormem Druck belastet, und da ist es normal, dass man einen Todeswunsch hegt, weil der Tod wie die einfachste Lösung ist, sich von seinem Stress zu lösen.